Es brennt

21.11.2024 - 09:37:08 UTC
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Es war spät, als ich an diesem Abend die Einfahrt meines Hauses hinauffuhr. Ein langer Tag im Büro hatte mal wieder die Pläne für den Abend zunichtegemacht. Ein leichter Novembernebel lag über der leeren Straße und der klare Mondschein wandelte die Nachbarschaft in eine mystische Szene, die einem Märchen hätte entsprungen sein können. In der Ferne erklang das Geräusch von Hufen auf Asphalt und es zeichnete sich, ganz schwach nur gegen den im Mondschein erleuchteten Nebel, die Silhouette eines Tieres ab.

War das ein Reh?

Das Tier lief bis in die Mitte der Straße und blieb stehen. Es sah sich offenbar um, als sein Blick an mir hängen blieb. Es rührte sich nicht. Abgesehen von gelegentlichem Zucken seiner Ohren schien es komplett auf mich fixiert zu sein.

Ein Leuchten erhellte den Nebel um das Tier und noch bevor ich warnend meine Hand heben konnte, brach ein PKW durch den Nebel, ließ ihn auseinanderstieben und das Tier war verschwunden.

Kopfschüttelnd ging ich ins Haus. Es war wirklich ein sehr langer Tag gewesen. Ein Mikrowellenmenü und einen langweiligen Fernsehfilm später schleppte ich mich erschöpft ins Bett. Morgen würde ein wichtiger Tag werden und ich wollte ausgeschlafen sein, wenn ich ihm entgegentrat.

Ein lauter Schlag ließ mich aufschrecken. Da war etwas gefallen, etwas Schweres, und es war zerbrochen. Ich wollte aus dem Bett steigen, um unten nachzusehen, was es war, als mich das deutliche Gefühl überkam nicht allein zu sein. Jemand war in diesem Zimmer.

"Warum hasst du mich so sehr?"

Die Stimme war sanft, fast schmerzhaft zärtlich in ihrem traurigen Klang.

"Hassen?"

Ich tastete nach dem Lichtschalter auf dem Nachttisch.

"Wer…"

Als ich das Licht einschaltete, war ich allein. Wen sollte ich hassen? Ich stand auf, als mir ein stechender Geruch in die Nase stieg. Rauch. Feuer. Es brannte!

Ich riss die Tür auf und lief ins Treppenhaus. Von unten sah ich den orangenen Schein der Flammen, hörte das Knistern des Holzes. Im stetigen Versuch die Ruhe zu bewahren riss ich den Feuerlöscher von der Wand, den ich für Notfälle im Obergeschoss hatte anbringen lassen und lief nach unten. Das gesamte Erdgeschoss stand bereits in Flammen. Gegen dieses Inferno hatte ich mit dem kleinen Löscher keine Chance. Als ich mich umdrehen wollte, um über das Garagendach das Haus zu verlassen, sah ich eine Gestalt in den Flammen. Das konnte doch nicht sein. Als ich genauer hinsah, sprang mir die Gestalt entgegen und riss mich zu Boden. Es war das Reh aus dem Nebel. Mit verbranntem Fell und roten Augen stand es über mir und drückte mich zu Boden, als es sich zu mir neigte und mit furchterregender, kratzender Stimme schrie:

"WARUM HASST DU MICH SO SEHR?"

Ich schreckte auf und saß schweißgebadet in meinem Bett. Ein Albtraum, aber was für einer. Ich ging zum Fenster und warf einen Blick nach draußen. Es war kurz nach halb vier. Ich stand fast fünf Minuten am Fenster, als mir auffiel, das neben dem Haus gegenüber ein Reh im Garten stand und mich anblickte. Ich schloss die Augen. Das konnte doch nicht real sein. Als ich die Augen wieder öffnete, war das Reh verschwunden. Nur eine Täuschung. Aber… hatte sich das Gebüsch nicht bewegt? Da wo eben noch das Reh stand?

Ich beschloss, wieder ins Bett zu gehen. Ich musste schlafen. Morgen würde ein wichtiger Tag werden.

Am nächsten Morgen fuhr ich wie gewöhnlich ins Büro. Noch immer verwirrt, von dem, was in der Nacht geschehen war, bereitete ich mich auf das Meeting vor. Mein Projekt bedeutete viel für die Firma und sollte neuen, gehobenen Wohnraum für junge Familien schaffen.

Die Aussage meines Vorgesetzten, er brenne für dieses Projekt, ließ mir Schauer über den Rücken laufen, wie ich es noch nie erlebt hatte. Feuer war in diesem Büro ohnehin eine beliebte Metapher. Wenn etwas eilig ist, beliebt ist oder im Trend ist, ist es heiß. Wenn es schon mehr als heiß ist, dann brennt es. Kein Wunder, dass sich das Feuer bereits in meine Träume geschlichen hat.

Ich ging also in den Besprechungsraum, um die Präsentation für mein Projekt vorzubereiten und legte die Pläne auf dem großen Konferenztisch aus, damit sich jeder einen kompletten Überblick verschaffen konnte. Ich strich nun also die Seiten glatt und erstarrte. Auf einem meiner ersten Bilder, es zeigte den Baugrund in seinem derzeitigen Zustand, sah ich es. Auf der kleinen Lichtung in diesem Wald stand das Reh und blickte mich an.


Verfasst 738432.55372 EUT von Benetton Blake 
 
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